Kinder und ihre Borderline-Mütter

Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) wurde früher als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet und hat in der Klinischen Klassifikation die Diagnose-Nummer F 44.81.
Von der Diagnose DIS sind wesentlich mehr Mädchen/Frauen als Jungen/Männer betroffen. Überdurchschnittlich häufig handelt es sich um (weibliche) Überlebende von Folter und Gewalt in pseudoreligiösen Strukturen. Zudem spielt die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungserfahrungen eine Rolle. 
Bevor die Diagnose-Stellung erfolgt, liegt hinter den Betroffenen oft schon ein längerer klinischer Leidensweg. Einige (Schul-)Mediziner und -Medizinerinnen und TherapeutInnen zweifeln an der Existenz dieser Identitätsstörung und werfen den Betroffenen Simulation, Schauspielerei, Wichtigtuerei und kindisches Verhalten vor. Dies ist ein Zeichen von mangelnden Kenntnissen über Traumafolgestörungen. 
Die Dissoziative Identitätsstörung ist klar zu unterscheiden von Psychosen und von Schizophrenie.
Menschen mit DIS bezeichnen sich auch als "Multis"; nicht-multiple Menschen sind "UNO`s".

In traumatischen Situationen dissoziieren (im Sinne von abspalten) Menschen ggbf., um diese zu überleben. Umgangssprachlich redet man dann davon, sich selbst in einer traumatischen Situation "von oben", "von außerhalb" oder "von daneben stehend" zu sehen, den Körper zu verlassen und als Zuschauer/in das Geschehen wie als fremde Person wahrzunehmen.
Die Dissoziative Identitätsstörung ist die schwerste Form der Dissoziation.
Sie ist die Folge von schwerster psychischer, sexualisierter und / oder physischer
Gewalt / Traumata in der Kindheit und eine Höchstleistung der Psyche, eine Selbstheilungskraft. Die Alternative wäre der eigene Tod, da die sofortige lebensrettende Entfernung aus den akut lebensbedrohlichen traumatischen Zusammenhängen ausgeblieben ist. 

»Willst du in der normalen Welt überleben, bleibt dir keine andere Wahl als so zu tun, als ob alles in Ordnung sei, Du spielst die geforderte Rolle, trägst sie als zweite Natur, schlüpfst in sie hinein, wann immer sie abgefragt wird. Zu krass sind die inneren Gegensätze, die du erlebst (...). Und dann das Außen: die Mitschüler, die Lehrer, die Verwandten, sie alle denken, du hast ein ganz "normales" Zuhause und du machst sie glauben, du seiest ein ganz "normales" Kind und ein Fragment deiner Identität erscheint auch völlig "normal". Unweigerlich wirst du zum Chamäleon, passt dich dem vorgegebenen Hintergrund an, versuchst, die eine Welt vor der anderen zu verbergen, auch vor die selbst. Welch anderer Weg bleibt dir, wenn die Wirklichkeit mit Todesdrohungen belegt ist, sage mir, wie sonst willst du das Leid überstehen?«

Terry Maria Balthasar: "Im Schutz des Rudels", Hierophant-Verlag 2010, S. 50-51.


Die lebensbedrohlichen Situationen können in diesen Fällen nicht mehr überlebt werden, indem die Psyche den Körper nur verläßt bzw. der Mensch dissoziiert, sondern es werden Persönlichkeitsanteile abgespalten und so die Traumatisierungen auf verschiedene Teilpersönlichkeiten verteilt, da nur eine Persönlichkeit das Grauen nicht überleben könnte.  

Einfach gesagt bedeutet DIS = Viele-Sein (in einem Körper). Betroffene Menschen weisen zwei oder mehrere unterschiedliche Persönlichkeiten in sich auf, die abwechselnd aber nie zeitgleich die vollständige Kontrolle über das Gesamtindividium übernehmen. 
Diese einzelnen Teilpersönlichkeiten in einem Körper können unterschiedliche Geschlechter, Alter, Vorlieben, Bedürfnisse, Geschmäcker etc. haben, konstruktiv oder destruktiv sein, unterschiedliche Unternehmungen / Aktivitäten bevorzugen, eigene Empfindungen, Erinnerungen, Kräfte, Fähigkeiten und Möglichkeiten haben.
Die Sehstärken der Augen können sich von Teilpersönlichkeit zu Teilpersönlichkeit unterscheiden, genau wie die Stimmen, die Gestik, die Mimik und die individuellen Körpererinnerungen. 
Einzelne Teilpersönlichkeiten können unter den Symptomen der Komplexen PTBS, Borderline und / oder unter den körperlichen Folgeerkrankungen der überlebten Misshandlungen (wie z. B. Fibromyalgie, Unterleibsschmerzen, Magenkrämpfen) leiden.


Multiple Systeme

Menschen mit DIS erleben ihr Viele-Sein als eine Art (Multiples) System.
Die Systeme unterscheiden sich aufgrund der ganz individuellen, biografisch bedingten Entstehungsweisen. Nie gleicht die Struktur eines Systems genau der Struktur eines anderen Systems.

Im Alltag wirkt die repräsentative Teilpersönlichkeit (Gastgeber/in-Persönlichkeit; Alltagspersönlichkeit). Wenn andere Teilpersönlichkeiten "Körperzeit" beanspruchen, bedeutet das für die Alltagspersönlichkeit "Zeitverlust".
Den Wechsel der Präsenz der Teilpersönlichkeiten bezeichnet man als Switch.
Manchmal ergeben sich durch die Aktivitäten anderer Teilpersönlichkeiten im Außen (und bei unzureichender innerer Kommunikation) verwirrende Zustände, Missverständnisse, peinliche Begebenheiten, Irritationen und Befremden beim sozialen Umfeld, deren Folgen die Außenpersönlichkeit gegenüber Nicht-Multiplen und Nicht-Wissenden durch Improvisation, Kreativität und Ausreden auszugleichen versucht.    

Manche Teilpersönlichkeiten haben keine Erinnerung an die traumatischen Ereignisse in der "Entstehungsgeschichte".
Manche Teilpersönlichkeiten haben noch lange Kontakt zu den TäterInnen (den VerursacherInnen der Traumatisierungen).
Manche Teilpersönlichkeiten wurden von den TäterInnen konditioniert ("programmiert") und reagieren auf Auslöser mit bestimmten Handlungen.
Auch können manche Teilpersönlichkeiten TäterInnenintrojekte weiter reproduzieren. 
Manche Teilpersönlichkeiten sind "ErinnerungsträgerInnen". Sie reagieren mitunter auf Trigger mit heftigen Gefühlen wie Angst, Verzweiflung, mit Aggressionen und / oder suizidalen / selbstverletzenden Handlungen.  
Manche Teilpersönlichkeiten sind nur Innenpersonen, treten also nie nach Außen.
Manche Teilpersönlichkeiten verweigern die Anerkennung der Diagnose DIS.

Die Entstehung neuer Teilpersönlichkeiten aber auch das verschwinden / "schlafen" von Teilpersönlichkeiten kann bis zum Tod des Menschen mit DIS auftreten. Mit dem verschwinden / "schlafen" von wichtigen Teilpersönlichkeiten können bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse (zum Beispiel berufliche Qualifikationen) unwiderruflich verloren gehen. Dies kann u. a. ein Grund dafür sein, das die bisherige Berufstätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann.

Die Kooperation und Kommunikation innerhalb des Systems und die (lebenslange) Auseinandersetzung mit den erlebten Traumata erfordert von den DIS-Persönlichkeiten viel Kraft und Zeit. Menschen mit DIS können durchaus berufstätig sein, studieren, Beziehungen führen und Eltern sein. Hilfreich kann sein die Akzeptanz der Diagnose (von den Betroffenen, aber auch deren Umfeld), das Wissen um die eigenen Systemstrukturen und eine funktionierende Kommunikation der Teilpersönlichkeiten.



Links:

Internetforen und Plattformen


Lichtstrahlen e. V.
Eine Selbsthilfeplattform für und von multiplen / stark dissoziierenden Menschen
vor dem Hintergrund ritualisierter Gewalt.


Dokumentationen und Spielfilme bei youtube

"Die Seele brennt. Annäherung an eine multiple Persönlichkeit"
Film von Liz Wieskerstrauch

"Höllenleben. Eine multiple Persönlichkeit auf Spurensuche"
Dokumentation von Liz Wieskerstrauch, 2001.

"Höllenleben - Der Kampf der Opfer. Ritueller Missbrauch in Deutschland"
Dokumentation von Liz Wieskerstrauch, 2003.

Multiple Personality Disorder
Dokumentation von Michael Mierendorf & Gloria Steinem, USA 1993.

"Voices within. The Lives of Truddi Chase"
Truddi Chase veröffentlichte 1987 das vielbeachtete Buch "When Rabbit howls" (dt. "Aufschrei", 1988) über ihre Traumatisierung und ihr Leben mit DIS.

"Sybil"
Spielfilm (2007) des gleichnamigen Buches (1973) von Flora Rheta Schreiber.


Filme direkt von / über Betroffene(n)

I`m more than just Trauma and Dissociative Identity Disorder
Film (2008) einer jungen Frau über rituelle Gewalt, Kindheitserinnerungen und das Leben danach mit DIS.

The ManyFacses of Marilyn
Film über Marylin Williams, CBN, 2010.

Was ist Dissoziation?
Film (2012) von J. (BillyJoel1985), über die Traumatisierung durch seine Mutter und Erfahrung mit DIS.



Biografische Bücher (Auswahl)

"Aufschrei"
von Truddi Chase.

"Im Schutz des Rudels. Entwicklungsgeschichte einer dissoziativen Persönlichkeit und ihr Heilungsweg"
von Terry Maria Balthasar

"Sybil"
von Flora Rheta Schreiber.

"Vater Unser in der Hölle. Durch Missbrauch in einer Sekte zerbrach Angelas Seele"
Buch von Ulla Fröhling, Erschienen Nov 1996, neuere, überarb. Auflage 2012.
Infos


Sonstiges

Renate Rennebach Stiftung für Opfer ritueller Gewalt



© Jana Reich, www.borderline-muetter.de, 2012-12-30

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