Kinder und ihre Borderline-Mütter

Opferentschädigung

Die Folgen psychischer, physischer und/oder sexueller Gewalt können verschiedene psychische Krankheiten (wie z. B. Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, Borderline Persönlichkeitsstörung, Dissoziative Persönlichkeitsstörung usw.) sein. 

Opfer von vorsätzlicher sexueller und/oder physischer Gewalt durch Bezugs- oder Fremdpersonen können im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes (kurz: OEG) Leistungen beantragen. Hierzu gehören u. a. das Recht auf zusätzliche Therapiestunden oder gemäss dem Grad der Schädigung eine monatliche Rente. Letztere wird zumeist befristet erteilt und kann verlängert werden.

WICHTIG: Der Antrag nach OEG kann ohne eine polizeiliche Anzeige erfolgen.
Eine Anzeige ist keine Voraussetzung für ein Antrag gemäss OEG.
Traumata kommen oft erst Jahre oder Jahrzehnte hoch, dann sind die Taten nach jetzigem bundesdeutschem Strafrecht oft schon "verjährt".
Ein OEG-Antrag ist an keine Frist gebunden, er ist zu jeder Zeit möglich.

Eine offizielle Anerkennung gemäß dem Opferentschädigungsgesetz bedeutet vielen Opfern eine Art gesellschaftliche Anerkennung ihres Leides und kann für den inneren und therapeutischen Genesungsprozess ein wichtiger Schritt sein.

Das Verfahren läuft in folgenden Schritten ab:

Antrag:
Zuständig für die Antragsbearbeitung ist das Versorgungsamt in dem Bundesland, in dem die Straftaten begangen worden sind. Die Formulare finden sich zumeist online bei den zuständigen Ämtern. In NRW ist es der Landschaftsverband Rheinland (LVR). 

Es muß durch die Angaben deutlich werden, das die Folgeerkrankungen in einem
Kausalzusammenhang (also direkten Zusammenhang) mit der Traumatisierung stehen,
und nicht durch spätere Ereignisse in der Biografie erklärbar wären.
Begünstigend für die Entsprechung des Antrages sind schriftliche ZeugInnenaussagen (von Tat- oder ZeitzeugInnen wie Geschwister, FreundInnen, LehrerInnen, NachbarInnen, Verwandte etc.), Beweise, Dokumente, Atteste, Urteile, polizeiliche Anzeigen, Klinikberichte etc.
Das Amt prüft die Aussagen, kontaktiert die angegebenen ZeugInnen, TherapeutInnen, Kliniken, Behörden etc. und holt die Auskünfte und bestehenden Gutachten ein.


Dauer des Verfahrens:
Ca. ein Jahr nach Antragsstellung (je nach Bundesland) ergeht ein Bescheid über die Erbringung von Leistungen gemäß dem OEG oder ein Ablehnungsbescheid. Eine Ablehnung nach der ersten Antragstellung ist fast immer die Regel bei sexueller und physischer Gewalt in der Kindheit und Jugend.
Das gesamte Verfahren kann durch die eingelegten Widersprüche etc. einige Jahre dauern.
Es gab Fälle mit einer Gesamtdauer der Bearbeitungszeit von sechs bis zwölf Jahren. 



Psychische Belastung durch Gutachten:
Das Amt entscheidet in wenigen, ganz eindeutigen Fällen nach Aktenlage, wenn genug aussagekräftige Gutachten der behandelnden ÄrztInnen, PsychiaterInnen, TherapeutInnen etc. vorliegen.

Meistens beauftragt das Amt jedoch Gutachter/innen, die das Opfer erneut begutachten.
Oft legen diese vom Amt
beauftragten Gutachter/innen den Grad der Schädigung auf 20 Prozent fest. Der Grad der Schädigung wird in 10-er Schritten festgelegt. Eine befristete Rente gibt es ab 30 Prozent Grad der Schädigung.
Hiergegen kann man Widerspruch einlegen, wenn die Diagnosen eine höhere Einstufung rechtfertigen.

Es gab in der Vergangenheit Gutachten, in denen über die Überlebenden sexueller Gewalt behauptet wurde, dass ihre psychischen Traumafolgen (wie Borderline, Dissoziative Identitätsstörung)
  1. aus einer "Milieuschädigung" resultieren,
  2. oder von einer frühen "Hirnschädigung bei der Geburt" kommen,
  3. oder das die psychischen Erkrankungen innerhalb der Familie "vererbt" seien,
  4. oder es bei ihnen "falsche Erinnerungen"* aus der Therapie seien (*siehe Täter-Lobby II).
  5. oder das das Opfer sich nicht eindeutig gewehrt habe bzw.
      sein "nein" nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht hat.

  6. oder in denen dem Opfer vorgeworfen wurde,
      "Therapien zum Lebensinhalt" gemacht zu haben.
Diese Aussagen sind für die Opfer erneute Gründe, den Glauben in ein Rechtssystem endgültig zu verlieren bzw. nie mehr zu bekommen.

Desweiteren gibt es "Glaubwürdigkeitsgutachten".


Ablehnungen und Widersprüche
Im Falle des bei sexueller und/oder körperlicher Gewalt nicht unüblichen Ablehnungsbescheides sollte man Widerspruch einlegen!
Nach dem ersten Widerspruch ergeht sozusagen in der zweiten Runde vom Amt ein Widerspruchsbescheid.
Im Falle einer zweiten Ablehnung kann man ein zweites Mal Widerspruch einlegen.
In erster Instanz wird der Fall vor dem Sozialgericht verhandelt, die zweite Instanz ist das Landessozialgericht.  


Psychische Belastung im Zusammenhang mit Zeuginnen und Zeugen, Täterinnen und Täter
Die Angaben zu den Zeuginnen und Zeugen kann für die Opfer ebenfalls psychisch belastend sein, besonders wenn es jahrelang keinen Kontakt gab. Deren aktuelle Anschriften müssen recherchiert und gegenüber dem Amt angegeben werden.
Nicht alle Zeuginnen und Zeugen stehen dem Opfer hilfsbereit gegenüber. Manche verweigern ihre Rolle als "wissende Zeugin / wissenden Zeugen". Sie wollen mit der Vergangenheit nicht konfrontiert werden. Evtl. müssten sie sich selbst eingestehen, das sie damals Gefahren- und Missbrauchssituationen nicht richtig eingeschätzt haben bzw. dem Opfer damals schon nicht geglaubt haben bzw. dem Opfer nicht angemessen zur Seite gestanden haben.
Hier kann es zu heftigen Enttäuschungen kommen, wenn die Zeit- oder TatzeugInnen sich nicht erinnern wollen oder gar bewusst zu Ungunsten des Opfers falsch aussagen.
Manche ZeugInnen können sich aus Altersgründen oder auf Grund von eigenen psychischen Belastungen tatsächlich nicht an jahrelang zurückliegende Ereignisse erinnern. Auch dies kann natürlich enttäuschend für die Antragsteller/innen sein.

Täter/innen werden im Widerspruchsverfahren als Zeug(inn)en vor das Sozialgericht geladen, nicht als Angeklagte. Erfahrungsgemäß streiten die Täter/innen, wenn sie nicht von ihrem  Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen, ihre Taten ab. Hierauf muß man innerlich vorbereitet sein.
Eine persönliche Begegnung mit den Tätern/Täterinnen im Gerichtssaal ist vermeidbar. Dies muss man rechtzeitig einfordern.



Urteile
Urteile im Zusammenhang mit OEG und sexueller und/oder physischer Gewalt


Gut zu wissen
Es ist nicht Pflicht, einen Anwalt / eine Anwältin einzuschalten.
Es ist jedoch ratsam, sich vor und während des Antragsverfahrens (juristische und persönliche) Unterstützung und Beratung durch den Weißen Ring, dem Sozialverband VDK e. V. oder bei Frauenberatungsstellen zu holen.

Die Sachbearbeiter/innen in den Ämtern haben in der Regel eine "opferkritische Haltung", d. h. man kann nicht darauf hoffen, das man in den Ämtern auf Verständnis, Beratung und Erfahrung im Umgang mit traumatisierten Menschen, die einen Antrag gestellt haben, trifft. Im Gegenteil. In den Verfahren werden oftmals die Symptome (wie z. B. Dissoziieren/ Abspaltung, Verdrängung) der spezifischen Traumafolgeerkrankungen (PTBS, Borderline u. a.) als Gegenargumente gegen die Opfer verwandt, um ihre Aussagekraft, Glaubwürdigkeit und Erinnerungen in Zweifel zu ziehen und die Opfer (= AntragstellerInnen) zu verunsichern.
Oder es wird die - oft nur äußerliche oder vorübergehend vorhandene - mühsam wiedergewonnene Stabilität des Opfers so ausgelegt, dass eine Schädigung nicht mehr vorhanden sei.
Eine praktizierte Anti-Opferhaltung (weil evtl. das Wissen über Traumatisierungsfolgen fehlt) in diesen Verfahren kann psychisch für die Opfer eine große psychische Belastung darstellen und schlimmstenfalls sogar zu Re-Traumatisierungen führen.


Deshalb ist es wichtig:
- keine hohen Erwartungen zu haben,
- einen langen Atem und "Nerven" zu haben,
- auf ein unterstützendes Netzwerk aus FreundInnen, TherapeutInnen und ExpertInnen
  (von Beratungsstellen) zurückgreifen zu können,
- in psychisch instabilen Zeiten den Antrag nicht zurückzuziehen, sondern "ruhen zu lassen",
- sich zu Terminen von netten Menschen begleiten zu lassen,
- alles schriftlich festzuhalten,
- immer alles auf Richtigkeit hin zu überprüfen, und ggbf. zu widersprechen,
- zu wissen, wie die Abläufe sind bzw. welche Erfahrungen andere Opfer gemacht haben
- und ggbf. sich zu vernetzen.
    


© Jana Reich, www.borderline-muetter.de, 2012-12-02, Alle Angaben sind ohne Gewähr!



Aktuelle Zahlen aus dem Bundesgebiet aus dem Jahr 2011 Quelle: Weißer Ring, 2012.

Straftaten insgesamt 5.990.679
Gewalttaten 197.030
gestellte OEG Anträge 20.435
Ablehnungen 8.581
Anerkennungen 7.579
GdS kleiner als 25 (Heilbehandlungskosten) 6.098
GdS größer als 25 (Bewilligung einer Rente)
1.239
Bewilligung einer Rente für Angehörige von Opfern (wie Witwen, Witwer, Waisen, Eltern) 242


Die Anerkennung der OEG-Anträge schwankt sehr von Bundesland zu Bundesland.
Zum Vergleich die Zahlen aus 2011:
In Bayern wurden 245 Renten für Beschädigte bewilligt, das sind 14,18 Prozent der dort gestellten Anträge.
In Sachsen wurden 2 Renten für Beschädigte bewilligt, das sind 1,08 Prozent der dort gestellten Anträge.

Studienergebnisse zum OEG bzgl. der Barrieren und Chancengleichheit

- Das Gesetz ist bei ÄrztInnen, TherapeutInnen, SozialberaterInnen und Gewaltopfern
  kaum bekannt.
  Nur ein sehr geringer Teil der Opfer stellt überhaupt einen Antrag gemäß OEG.
- MitarbeiterInnen und GutachterInnen im OEG-Verfahren verfügen kaum über
  Hintergrundwissen zu sexueller, physischer und psychischer Gewalt und deren Folgen.
- Das OEG erfasst nicht alle Gewaltformen gleichermaßen.
  Strukturell scheint, so die Studie der Hochschule Fulda,
  "eine Benachteiligung in den Entschädigungschancen der Opfer häuslicher Gewalt
  vorzuliegen und damit indirekt eine Benachteiligung von Frauen,
vermutlich auch von
  Kindern und älteren Menschen.
  Zudem spiegelt der Tätlichkeitsbegriff des OEG
nicht die Gesamtheit strafrechtlich
  relevanter Formen von Gewalt wider,
die nachweislich zu gesundheitlichen und sozialen
  Auswirkungen führen können." 
(Studie, S. 3).
  Anm.: gemeint sind damit psychische Gewalt; Stalking etc.
- Ökonomische Folgen von Gewalt bei den Opfern sind schwer ermittelbar und kaum nachweisbar.
- "Es liegen für Deutschland keine Zahlen zu den ökonomischen Folgen der Gesundheitsschäden
  aufgrund von Gewalt für die Betroffenen vor. (...)
  (Es) lässt sich die Hypothese aufstellen,
dass die bisherige Versorgung eher nicht oder
  zumindest nicht für alle Betroffenen bedarfsgerecht ist."

  (Studie der HS Fulda, S. 25)


Forderungen für eine Verbesserung der Abläufe beim OEG:

- längere Aufbewahrungsfristen von Akten aus Pflegschaftsverhältnissen, Heimen, Schulen und
  medizinischer Versorgung.
- Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexueller, psychischer und physischer Gewalt.

- Abschaffung des § 10a des OEG (regelt u. a. ab welchem Jahr die Taten berücksichtigt werden).
- Schulungen der behördlich Beteiligten im OEG-Verfahren zu den Langzeitfolgen von
  sexueller, psychischer und physischer Gewalt.
- Grundsätzlich eine unterstützendere Pro-Opfer-Haltung im OEG-Verfahren,
  um auch Re-Traumatisierungen zu vermeiden.

- Überarbeitung der Antragsformulare zum OEG hinsichtlich einer geschlechtergerechten
  Sprache und dahingehend, das Straftaten, die über Jahre stattfinden (wie oft sexuelle,
  psychische und/oder physische Gewalt) besser eingetragen werden können.
  Die bisherigen Formulare sehen nur eine einmalige Straftat vor.
- Kürzere Bearbeitungszeiten.



 

 

Informative Links

- Das Opferentschädigungsgesetz im Wortlaut: OEG


- Sk2 – Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen
  AWMF – Registernr.051/029

- Statistiken zur staatlichen Opferentschädigung (Weißer Ring)

- Hilfsmöglichkeiten für Opfer häuslicher Gewalt - insbes. Leistungen nach dem OEG 
  Bachelor-Arbeit von Kathrin Werner, 2010.

- Umfrageergebnisse & Studie zum OEG
  von "Gegen Missbrauch e. V." in Zusammenarbeit mit "Trotz allem e. V.", 18. Juni 2012.

- Entschädigung von Opfern interpersoneller Gewalt im Raum Fulda.
  Studie zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) und der Verfahrenspraxis in der Opferentschädigung
  Zusammenfassung der Ergebnisse
  Hochschule Fulda, 2010.

- Entschädigung von Opfern interpersoneller Gewalt.
  Studie zum Opferentschädigungsgesetz und der Verfahrenspraxis im HAVS Fulda
  Präsentation, Hochschule Fulda, 2010.

- Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG)
  Eine Auswahl typischer Probleme und Fragen; Dr. Gudrun Doering-Striening

- Probleme bei der staatlichen Entschädigung von Kindern und Jugendlichen
  Dr. Gudrun Doering-Striening

- Opfer, Zeugen und ihre Glaubwürdigkeit im Gerichtsverfahren
  Opferhilfe Sachsen e. V., 2001.




© Jana Reich, www.borderline-muetter.de, 2012-12-05

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