Kinder und ihre Borderline-Mütter

Mütter mit Borderline

Menschen, die an der Persönlichkeitsstörung Borderline erkrankt sind, sind dies in der Mehrheit aufgrund von überlebter psychischer, physischer und/oder sexueller Gewalt und/oder anderen Traumatisierungserfahrungen (z. B. durch große Verlusterfahrungen, Krieg, transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungserfahrungen etc.). Nur in den allerwenigsten Biografien lässt sich überhaupt keine Ursache für die Auslösung der Persönlichkeitsstörung finden. 
Sie sind also Überlebende und ihre Psyche und Seele hat Verletzungen erlitten.
Ca. 70-75 Prozent der Borderline-Diagnosen werden bei Frauen diagnostiziert.
Die Dunkelziffer der undiagnostizierten Borderlinerinnen dürfte nicht zu unterschätzen sein.
Die Frauen haben oftmals zum Zeitpunkt der Diagnose bereits Kinder oder
sie setzen sich zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben mit dem Thema Kinderwunsch auseinander. Oft fragen sie sich - wie alle anderen Frauen ohne Borderline auch - ob sie eine gute Mutter für ihr Kind sind oder sein können.

Eine Traumatisierungsfolgeerkrankung wie Borderline oder PTBS kann durch besondere Ereignisse in der eigenen Biografie "aktiviert" werden. Dies kann auch Jahre oder jahrzehntelang nach den eigentlichen Traumatisierungen erfolgen. Diese besonderen Ereignisse können bestimmte Lebensphasen (gemeinsames Wohnen, Eheschließung), Trennungen, Krisen, eine Krankheit eine Operation, ein Unfall, ein Todesfall oder die Geburt des ersten eigenen Kindes sein. 

Oft haben Frauen mit Borderline besonders hohe Ansprüche an sich selbst und ihr Umfeld. Diese Ansprüche, die aus ihren Traumatisierungen (wie zum Beispiel emotionale Vernachlässigung) entstanden sein können ("Mein Kind soll es auf alle Fälle besser haben als ich!") stellen einen Druck und Anspruch dar, den sie selbst und andere Menschen nicht erfüllen können und zu hoher Frustration führen kann.
Der hohe Anspruch und "gute Wille" kann in eine Form von Überbehütung des Kindes und in eine Symbiose mit dem Kind umschlagen, die eine gesunde Entwicklung des Kindes verhindern. Diese Form von psychischer Gewalt (Unterforderung; ständige Kontrolle; Abhängigkeit; schüren von Ängsten; kein Platz für Entwicklungen) ergibt ein mangelndes Selbstvertrauen bei den Kindern.

Wenn eine Mutter mit Borderline ein eigenes Kind oder mehrere Kinder hat, können die ganz normalen Entwicklungsphasen (Besuch des Kindergartens, der Schule), Autonomiebestrebungen (Ausbildung des ICH`s und des eigenen Willens bei dem Kind; eigener Freundeskreis) und Ablösungsprozesse des Kindes (in der Pubertät, erste Liebesbeziehungen, anstehender Auszug) für die Mutter ständige "Triggersituationen" bedeuten, in denen es ihnen kaum möglich ist, als Mutter bzw. als Erwachsene zu agieren bzw. zu reagieren. Häufig kommt es durch diese Schlüsselsituationen zu Verschlimmerungen der Symptome bzw. zu Eskalationen in den engsten Familienbezügen (gegenüber dem Partner/ der Partnerin; den Kindern).  

Aufgrund der Merkmale der Erkrankung - wie zum Beispiel Verlassensängste, das Gefühl der Leere und unstillbaren Einsamkeit, Probleme in Bezug auf Nähe und Distanz, autoaggressives / fremdaggressives Verhalten, Suizidalität usw. -
fällt es Müttern mit Borderline schwer, eine gesunde und stabile Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen, dessen Bedürfnisse zu erkennen und das Kind psychisch und physisch mit den Begleitsymptomen von Borderline (z. B. mögliches selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität) nicht zu belasten.
Es ist ratsam, in speziellen Therapien Bewältigungsstrategien zu lernen, die Diagnose und Bedeutung der Persönlichkeitsstörung anzuerkennen, in Austausch mit anderen Betroffenen zu treten, gegenüber den Kindern altersgerecht die psychische Krankheit zu benennen und sie ihnen zu erklären (z. B. anhand von Kinderbüchern) sowie für die Kinder ein Unterstützungsnetz aufzubauen, damit die Kinder nicht (ebenso) in ihrer Kindheit und Jugend traumatisiert werden.
Echte Liebe zum Kind bedeutet, das psychische und physische Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen und ggbf. Hilfe zu suchen und anzunehmen.   

Einige Menschen mit der Persönlichkeitsstörung Borderline sind daran erkrankt, weil sie selbst eine (untherapierte, undiagnostizierte) Mutter und/oder einen (untherapierten, undiagnostizierten) Vater mit dieser Persönlichkeitsstörung hatten. Diese Traumata-Kette gilt es zu durchbrechen.   


Nachteilige gesellschaftliche Bedingungen bei psychischen Erkrankungen

Mütter (mit und ohne psychische Erkrankungen) haben in Deutschland mit den gegenwärtigen HERRschenden gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen viele Nachteile, unter anderem bezüglich ihrer gesellschaftlicher Anerkennung, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie hinsichtlich der Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern. Zudem existiert ein subtiler gesellschaftlicher Druck durch die mediale Propagierung eines "Idealbildes der heilen Familie", der "perfekten (deutschen) Mutter" und eines "Mythos der guten Mutter" usw.

Ein strukturelles finanzielles Beispiel: Wenn sich Elternpaare trennen und das Kind/die Kinder bei der Mutter bleiben, zahlen nur die Hälfte der Väter den gesetzlich vorgegebenen Unterhaltssatz für ihr/e Kind/er. Die anderen Kinder (bundesweit ca. 500.000) erhalten keinen oder viel geringeren Unterhalt. Die Zahlungsverweigerung der Väter wird staatlicherseits in Deutschland kaum geahndet.  
Kommen zu dem Status der allein erziehenden und meistens viel weniger verdienenden Mutter (aufgrund von Lohnungleichheit, Teilzeitarbeit, Brüchen in der Ausbildungs- und Berufsbiografie, prekären Arbeitsverhältnissen) noch psychische Erkrankungen hinzu, ergibt diese Kombination einen immensen Leistungs- und psychischen Druck auf die Mütter. Sie haben nun neben dem Druck durch die Mehrfachbelastung zusätzlich noch den Druck, psychisch funktionieren zu müssen. Aber Traumata und Symptome von Traumatafolgeerkrankungen halten sich nicht an berufliche und familiäre "Zeitpläne", sondern tauchen gerade in Zeiten von Veränderungen, Stress und starker Belastung, also zu höchst ungünstigen Zeitpunkten auf.
Um Traumata zu bearbeiten sind (Trauma-)Therapien notwendig. Diese können wochen- bzw. monatelange Krankenhausaufenthalte bedeuten und die Frage der Unterbringung der Kinder ist dabei ganz wesentlich. So sind diese Mütter in einem ständigen Spagat zwischen dem Druck, "psychisch nicht völlig abstürzen" zu können/dürfen und für ihr Kind/ ihre Kinder funktionieren zu müssen. Oft besteht eine große Angst davor, das ihnen das Kind/ die Kinder seitens der Jugendämter aufgrund der psychischen Beeinträchtigungen weggenommen werden könnte/n. In Fällen von Misshandlung und Fremdaggression gegenüber dem Kind ist dies auch eine notwendige Option, um das Kindeswohl nicht zu gefährden. 
Um Kinder nicht aus ihren Bezügen (Kindergarten, Schule) zu reißen, entscheiden sich Mütter oft statt für stationäre Angebote (in einigen Kliniken ist die Mitnahme der Kinder möglich) für ambulante oder teilstationäre Angebote (TherapeutInnen, Tageskliniken). 
Eine (Trauma-)Therapie ist schwere psychische Arbeit und im Verbund mit Kindern eine große Herausforderung, dabei ist es egal, ob es sich um eine ambulante, voll- oder teilstationäre Therapie handelt. Und dennoch ist sie wichtig, um die eigenen Traumata nicht an die Kinder weiterzugeben. 


Die oben genannten Probleme stehen im Kontext zu weiteren Problemfeldern:
- die seitens der Krankenkassen begrenzte Anzahl der Therapiestunden, die für Traumatherapien oft nicht ausreichen;
- die regionalen Wartezeiten bei qualifizierten TherapeutInnen;
- die mangelnde Qualifikation für und fehlende Spezialisierung auf Traumatherapie;
- die langjährigen Bearbeitungszeiten und opferfeindlichen Prozeduren im Bereich der  Opferentschädigungsverfahren;
- die fehlende gesellschaftliche Anerkennung für Überlebende erlittener Gewalt;
- das Tabuthema "psychische Erkrankungen" in der neoliberalen (Leistungs-)Gesellschaft;
- Angst um den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz sowie der Druck seitens der Ausbildungsstätten/ Arbeitgeber auf die Auszubildenden/ ArbeitnehmerInnen, viel Leistung zu erbringen und wenig Ausfallzeiten zu haben;
- Mangelnde flexible Möglichkeiten zur Teilhabe auf den Arbeitsmärkten.


© Jana Reich, www.borderline-muetter.de, 2013-03-08 

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