Übersetzung der DSM-IV

Im Folgenden sollen die Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung gemäß des Klassifikationssystems DSM-IV der American Psychiatric Association anschaulich mit Beispielen aus dem "Alltag" "übersetzt" werden.
Nur fünf der neun Kriterien müssen erfüllt sein, 
wenn von einer solchen Störung gesprochen wird:


1. Starkes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. 

BorderlinerInnen setzen Alleinsein mit Verlassensein gleich. Sie haben Angst vor dem Alleinsein und Verlassenwerden, dem Verlust der Liebe.
Bevor sie eine Beziehung beenden, sichern sie sich ggbf. schon die Nachfolgerin/ den Nachfolger.
Andererseits lässt ihre Angst vor dem Alleinsein auch Borderlinerinnen und Borderliner in für sie destruktive Beziehungen verbleiben, in denen sie traumatische (ihnen vertraute) Gewaltverhältnisse unbewusst rekonstruieren.
Um die Liebe von Bezugspersonen nicht zu verlieren, wird manipulatives Verhalten (durch Lügen, Intrigieren, Kontrolle und Isolation) ausgeübt. Die Kontrolle der Bezugspersonen (ihrer Handlungen, ihres Verhaltens, am liebsten sogar ihrer Gedanken) dient dazu, dem Verlust vorzubeugen. Dies kann von der Kontrolle der Mimik und Gestik der Bezugsperson gehen bis hin zu Vorwürfen wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Abweichungen von Alltagshandlungen der Bezugsperson (auf dem Heimweg, Gespräche mit anderen Menschen, Freizeitgestaltung) oder Vorwürfen der Untreue.
Eine grösstmögliche Kontrollmöglichkeit ergibt sich, wenn die Bezugsperson möglichst isoliert von bisherigen sozialen Bezügen wird/ ist, und zugunsten der Beziehung zu der Borderlinerin/ dem Borderliner seine bisherigen Freundschaften, Kontakte, Hobbies, Interessen, Wohnorte, Kommunikationsmittel etc. aufgegeben hat und in eine  Co-Abhängigkeit gerutscht ist.


2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.

Problematisches Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen ist ein Hauptmerkmal bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Borderlinerinnen und Borderliner haben einen unsicheren Bindungsstil.
Stürmische Annäherungen, Beziehungssehnsucht und Verschmelzungswünsche stehen der Angst vor Nähe und vor Fremdüberwältigung sowie dem Gefühl von Einengung entgegen.
Beziehungen nehmen oft einen extrem wechselhaften Verlauf ("Ich hasse dich, verlass mich nicht!").  
Es gibt keine Mitte und keine komplexe Wahrnehmung der (Mit-)Menschen. 
Mitmenschen werden idealisiert oder abgewertet. Da den idealisierten Menschen dies zunächst gefällt bzw. es ihnen nicht auffällt, kommen die verbalen Abwertungen und Grenzüberschreitungen für sie nachher umso überraschender.
Betroffenen fällt es zudem schwer, Nähe und Distanz zu regulieren. Hier spielen die Ängste vor Nähe und Ängste vor dem Alleinsein eine große Rolle.
Um in Situationen mit zu viel Nähe (große Nähe wird als Bedrohung empfunden) wieder eine emotionale Distanz herzustellen, wird z. B. von den Betroffenen aus heiterem Himmel ein Streit initiiert und Schuldgefühle produziert.
Instabile Beziehungen ergeben sich auch durch die extreme Gefühlslage des Borderliners/ der Borderlinerin, speziell bei schmerzhafter oder vermeintlicher Kränkung oder in Konfliktsituationen. Individuelle affektive Reaktionen (Verleugnung, Verachtung, Rückzug...) finden ohne Berücksichtigung von Konsequenzen statt. 
Zwischenmenschliche Konflikte können so nicht dauerhaft gelöst werden. 


3. Identitätsstörung: 
Ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.

Das Selbstwertgefühl einer Borderlinerin / eines Borderliners schwankt stark zwischen Selbsthass/Minderwertigkeitsgefühlen und "Größenwahn".
In diesen Punkt gehört
auch die "projektive Identifikation" hinein, bei der der emotionalisierte Borderliner in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Objekten Teile des Selbst abspaltet und auf eine andere Person projiziert. Diese Projektionen werden dann unbewusst als Teil des eigenen Selbst empfunden. Dadurch werden eigene Inhalte (Werte, Gefühle, Gedanken) als die der anderen Person wahrgenommen.


4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z. B. Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, zu viel oder zu wenig essen).  

Dieser Punkt hat viel mit destruktivem Verhalten, mit Süchten und innerer Leere zu tun.
So kann z. B. Promiskuität auch durch Sexsucht entstehen oder zur Bestätigung des Selbst, um sich zu spüren und um echte Beziehungsnähe zu vermeiden.
Rücksichtsloses Fahren kommt der Suizidalität und der Suche nach "Kicks" (um sich zu spüren) entgegen.   
Kaufsucht kann Leere füllen und eine zeitweilige Befriedigung darstellen.
 


5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.  

Selbstverletzendes Verhalten kann zum Abbau von inneren Spannungen genutzt werden; aus Gründen der Selbstbestrafung; zur Reorientierung bei dissoziativen Phasen; um sich selbst zu spüren; um sich emotionale "Kicks" zu verschaffen oder um Aufmerksamkeit zu erlangen. 
Selbstmorddrohungen werden auch zur emotionalen Erpressung eingesetzt, um Trennungen zu verhindern oder Bezugsmenschen zu bestimmten Handlungen zu bewegen etc.
Es besteht leider das hartnäckige Klischee, "Borderliner" bzw. "Borderlinerinnen" sind "17-jährige Mädchen, die sich ritzen". Es muss deshalb deutlich gesagt werden:
Selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten bzw. Selbstmordankündigungen bzw. -versuche sind keine Grundvoraussetzungen für die Diagnose. Genauso wie die Ausübung von "ritzen" oder "schneiden" keine eindeutigen Kriterien für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sind.  


6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). 

Affektive Instabilität bedeutet eine "klinisch bedeutsame Änderung der Stimmungslage", womit die extremen Stimmungsschwankungen, unter denen BorderlinerInnen leiden, gemeint sind. 


7. Chronische Gefühle der Leere.  

Freie Zeit und Alleinsein kann ein Gefühl der inneren Leere entstehen lassen.
Um die Gefühlsleere zu überdecken, werden Dramatisierungen erdacht oder (exzentrische) Handlungen ausgeübt.  


8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).

Wut ist ein charakteristisches Merkmal von Borderline. Die geringe Impulskontrolle lässt Borderliner/innen ihrer Wut nachgehen ohne Berücksichtigung von Konsequenzen.
In Affektsituationen kommt es bei fremdaggressiven Menschen mit Borderline zu körperlichen Angriffen gegenüber den Beziehungspersonen (Eltern, PartnerInnen, Kinder) oder KollegInnen, NachbarInnen etc.
In Ausnahmefällen kann es zu Tötungen (zum Beispiel Tötung des Kindes) kommen. Grund sind u. a. auch die Projizierungen auf die jeweiligen Personen.


9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome. 

Diese Symptome treten besonders in emotional belastenden Situationen oder Phasen auf. Zu den paranoiden Vorstellungen gehört zum Beispiel die verzerrte Wahrnehmung der Umgebung im Hinblick auf eine feindselige Haltung der betroffenen Person gegenüber. Die Folgen sind ängstliches oder aggressives Misstrauen bis hin zum Glauben an Verschwörungen und Machenschaften anderer gegen sich (Nachbarn, Institutionen, Arbeitgeber etc.). Neutrale, sachliche und freundliche Äußerungen oder Handlungen werden als feindselig oder verächtlich interpretiert.  
Dissoziative Störungen sind eine natürliche Reaktion auf extreme seelische Belastungen (Traumatisierungen). Hierzu gehören u. a. die Gefühle der Depersonalisation, Derealisation, (Teil-)Amnesien, Kontrollverlust etc. 

 

© Jana Reich, www.borderline-muetter.de; 2013-06-30